Zwischen dem Ende der Kindheit und dem Anfang eines eigenständigen Lebens...

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August 2025

Wir kommen zurecht 

Annika Büsing 

Steidl 2025

Philipp ist 17 Jahre alt und steht kurz vor dem Abi. Seine Familienverhältnisse sind nicht einfach. Sein Vater ist als erfolgreicher Chirurg ständig am Arbeiten und lebt ein Workaholic-Leben. Zwar ist er besorgt um seinen Sohn, hat aber bereits vor einiger Zeit den Draht zu ihm verloren. Noch immer denkt er oft an Philipps Mutter, von der er geschieden ist. Durch ihre psychische Krankheit taucht diese immer mal wieder in Philipps Leben auf und verschwindet aber wieder. Diese instabile Familienkonstellation zwingt Philipp bereits früh, seine eigenen Bedürfnisse zurückzustecken. Er möchte es allen recht machen, dabei bloss nicht zur Last fallen und lieber in der Masse untergehen. Philipp ist zwar wohlhabend, aber auf seine Art auch einsam. 

 

Familie ist in Büsings neustem Roman ein wichtiges Kernthema – einerseits die Familie, in die man hineingeboren wird, aber andererseits auch diejenige, die man sich selbst schafft. Phillip bezeichnet beispielsweise zwei Kinder, die ihn in schwierigen Lebenssituationen verstanden haben als seine Geschwister, wenngleich sie nicht die gleiche Sprache sprechen und er ihre Namen nicht einmal kennt. 

Eine wichtige Konstanze ist dementsprechend auch Lorenz, Phillips bester Freund. Sie kennen sich seit Jahren, gehen zusammen in die Schule und kiffen zusammen auf dem Friedhof. Viele Szenen handeln einfach davon, was die beiden gemeinsam unternehmen oder von anderen Alltäglichkeiten aus Phillips Leben. Anders als bei einem Buch mit klassischem Plot, ist „Wir kommen zurecht“ somit vor allem ein Mosaik aus vielen Alltagsdetails.

 

Diese Alltäglichkeit hat mich besonders fasziniert. Das Buch besteht aus so vielen, kleinen, alltäglichen Sequenzen, bei denen man sich anfangs vielleicht denkt: «Wieso hat die Lektorin oder der Lektor das nicht rausgestrichen, das ist eigentlich überflüssig!» Aber sie sind es eben nicht. Gerade diese kleinen, unscheinbaren Szenen setzen sich zu einem grossen Bild zusammen und sind schlussendlich elementar wichtig für den Plot und unterscheiden das Buch von anderen. Das Buch arbeitet nicht mit einem oder zwei Höhepunkten oder Problemen, die gelöst werden müssen. Sondern es nimmt alltägliche Szenen, die sich in unser aller Leben befinden und bildet somit die Realität nach, in der es eben auch nicht nur diesen einen Höhepunkt gibt. In einer Szene kaufen Philipp und seine Freundin beispielsweise Vorhänge für ihre Wohnung. Sie unterhalten sich über die Farbe und schliesslich ist es der Freundin dann doch egal, ob die Vorhänge nun rot oder grün sind. Diese Szene mutet banal an –zeichnet aber ein Bild der Beziehung zwischen Philipp und ihr.

 

So ein Gegenstand ist auch die Kommode bei Philipp zu Hause: In der allerersten Szene wird ausführlich beschrieben, was sich in allen Schubladen befindet. Zum Beispiel drei Ikea-Bleistifte. Oder der abgebrochene Schlüsselanhänger aus dem Zoo – Kram, der eben so zusammen kommt im Laufe der Jahre, und doch hat jedes Ding eine eigene Bedeutung und Geschichte, die im Leben eine Rolle spielt oder gespielt hat.

 

Aus diesem Grund ist das Buch ist auf auch character-driven und nicht plot-driven. Die Figuren und ihr Innenleben stehen klar im Vordergrund und nicht unbedingt die Handlung. Aber die Figuren verkörpern keine Stereotypen, sondern sind vielschichtig und handeln auch mal unüberlegt oder eben widersprüchlich – wie echte Menschen.

Alle Figuren versuchen ihr Leben irgendwie zu meistern, dabei stolpern sie auch mal, aber letztlich kommt man irgendwie durch. Das wiederspiegelt sich auch im Titel: „Wir kommen zurecht“. Ich konnte mir den Titel am Anfang nie merken, weil er einfach nicht so eingänglich war, fast banal. 

 

Auch Melancholie ist ein präsentes Thema in dem Buch. Philipp steht an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Anstelle des sonst in Büchern und Filmen gerne vermittelten Freiheitsgefühls wird in "Wir kommen zurecht" das Erwachsenwerden eher als Zeitpunkt dargestellt, in dem Philipp realisiert, wie gross die Welt ist und wie klein und ausgesetzt er sich darin auch fühlen kann. Annika Büsing gelingt es auf eindrückliche Art, diese Zeit der grossen Unsicherheit aufzunehmen und zu präsentieren. 

 

Eine unaufregende Geschichte, die dennoch ein richtiger Page-Turner ist – aber aus anderen Gründen als die übliche Spannungskurve. 

 

Anmerkung: Diese Rezension ist aus einer Podcastfolge hervorgegangen, die ich für eine Uni-Seminar zusammen mit Lea Cadisch entworfen habe. Credits für manche Inhalte gehen an sie.