Die ganze Nacht

Bunte Blätter fielen von den Bäumen. Die Abendsonne schien auf das Laub. Es war Herbst. Er ging auf das alte Bibliotheksgebäude zu. Das grosse Tor der Bibliothek schloss er mit dem verrosteten Schlüssel auf. Mannshohe Bücherregale, gefüllt mit tausenden von Büchern empfingen ihn. Ihm stieg der Duft von Staub und alten Büchern in die Nase. Er mochte diesen Geruch. Die Abendsonne schien durch die Fenster und warf Schatten auf sein Gesicht. Er schritt an den Bücherregalen mit den Leitern vorbei und staunte. Heute war sein erster Tag hier. Nachtwächter in einer Bibliothek. Der Wächter von tausenden von wertvollen Büchern. Das gefiel ihm. 

Links und rechts von ihm standen Regale aus dunklem Holz. Gesäumt von helleren Holzbänken zwischen den Regalreihen. Er blieb stehen und betrachtete die Decke. Kunstvoll verschnörkelt mit aufwendigen Schnitzereien war sie. 

Verzierte Treppengeländer ragten an den Treppen hinauf. Er erklomm die Treppen. Der zweite Stock war noch faszinierender als der erste. Hier standen an den Bücherregalen entlang Büsten von bekannten Schriftstellern und Autoren. Hinter Vitrinen, geschützt vor Sonne und Schmutz, verbargen sich besonders wertvolle Bücher.

Er schlenderte an den Bücherregalen vorbei. Wahlweise zog er das eine oder das andere Buch heraus, roch kurz dran. Las vielleicht kurz hinein. Dann stellte er es zurück ins Regal. Werke der vergangenen Jahrhunderte standen hier unter seiner Obhut. Er mochte sich nicht ausdenken, was geschah, wenn er versagen sollte. Zugegebenermassen, ängstigte ihn diese Vorstellung etwas, verantwortlich zu sein für so etwas Wertvolles. 

 Zwischen zwei Regalen entdeckte er eine kleine Nische am Fenster, die zum sich setzen einlud. Er schaute sich den Sonnenuntergang an. Der Himmel färbte sich in Rot- und Lilatönen.

Als die Sonne fast komplett untergegangen war, zog es ihn zurück zu den Regalen. 

Wahllos zog er eines der Bücher hinaus und setzte sich erneuert in die Nische. Er begann zu lesen und vertiefte sich in das Buch. 

Ohne es zu merken, verging die Zeit. Mittlerweile war es draussen komplett dunkel geworden und der Mond schien helle. Er schaltete die kleine Lampe ein, die in seiner unmittelbaren Nähe angebracht war. Das Licht war warm, erinnerte ihn an die Sommertage, als das Laub noch an den Bäumen hing. 

Er probierte sich weiter auf das Buch einzulassen, doch es wollte ihm nicht mehr so recht gelingen. 

Seine Gedanken schweiften immer wieder ab, zu jenem Sommer, in dem er sie kennengelernt hatte. 

Damals waren sie noch jedes Wochenende an den See gefahren. Den, mit dem kleinen Wasserfall und den prächtigen Weiden, die an heissen Sommertagen so schön Schatten spendeten. Wie er sich den Sommer herbeisehnte! Wie sehr er sie vermisste! 

Er blickte wieder aus dem Fenster. Im Licht des Mondes sah er ein Eichhörnchen durch das Laub rennen, hinauf auf den Baum, dessen bunte Blätter den Boden säumten. 

 

 

Hannah